Der Kampf ums Recht auf Mobilität

by | Mar 22, 2024

Grafik : Ellin Grassick

Kommunale Selbstverwaltung, „Vision Zero“ und Barrierefreiheit

Was passiert, wenn die Straßenverkehrsordnung mit den Grundrechten kollidiert, wie sie von den Vereinten Nationen oder im Grundgesetz formuliert werden? In Deutschland scheiterten die Vorschläge des Verordnungsgebers zur Lösung des Problems im Bundesrat am 24. November 2023. Hier erklären wir einige der Widersprüche und was getan werden sollte und könnte.

Nach dem Scheitern der Reform von StVG und StVO ist das Verkehrsrecht in eine Sackgasse geraten. Detaillierte Analysen zeigen, was auf Ebene von Gesetz, Verordnung und Verwaltungsvorschrift fehlt. Es bedürfte daher einer grundlegenden Neuorientierung.

Dabei kommt aber ein Aspekt zu kurz: Während sich im Bundesministerium und Bundesrat Reformentwürfe stauen, bewegt sich auf der Straße Erstaunliches. Dieser tägliche Kampf ums Recht auf Mobilität lässt das Verkehrsrecht nicht unberührt.

Statt staatlicher Rechtssetzung sind es Graswurzelinitiativen von Bürgerinnen und Bürgern, von ehrenamtlichen Kommunalpolitikern oder Gemeinden. Nicht zuletzt sind sie durch Vorbilder im Ausland inspiriert, in Barcelona, Bogotá, Kopenhagen, Paris oder Wien. Sie zeigen, dass andere Mobilitätsformen auch hierzulande möglich sind und zu lebenswerteren Städten führen:

  • Während Corona sind in deutschen Städten Pop-Up-Radwege entstanden; 
  • in Berlin werden Kiezblocks eingerichtet;
  • in vielen deutschen Städten werden Schulstraßen für Kinder freigegeben und für„Elterntaxis“und den Durchgangsverkehr gesperrt; 
  • Fußverkehrsinitiativen fordern die Barrierefreiheit von Gehwegen offensiv ein, etwa in Bremen
  • Und vielerorts versuchen Kommunen, die Parkprivilegien für Kfz einzuschränken, Parkraumbewirtschaftung einzuführen und das aufgesetzte Parken zu unterbinden.

Die Rolle des Rechts ist dabei mindestens ambivalent: Das Recht wird zwar oft als Transformationshindernis angesehen. Subjektive Rechte könnenaber auch zum Treiber der Verkehrswende werden. 

Dies setzt einen Bewusstseinswandel voraus. Das Verkehrsrecht wurde zu lange als technische Rechtsmaterie verstanden. Ihre Zwecke waren auf das Funktionieren des Kfz-Verkehrs beschränkt. Bei dem aktuellen Kampf ums Verkehrsrechtgeht es nunmehr darum, subjektive Mobilitätsrechte Einzelner zu berücksichtigen und lokalpolitische Gestaltungsspielräume einzuräumen.  

Wenn dieser Perspektivwechsel vollzogen wird, finden sich auch und gerade im Recht Ansatzpunkte für mehr Gleichberechtigung und eine umfassendere Teilhabe. Dies zeigt sich auf allen Ebenen: im Völker- und Verfassungsrecht, im Planungsrecht, im Straßenrecht und im Straßenverkehrsrecht.

Völker- und Verfassungsrecht: Grundrechte auf Mobilität

Die Suche nach einem Grundrecht auf Mobilität wurde früher mit stark verengtem Sichtfeld auf den Kraftfahrzeugverkehr beschränkt, namentlich in einem Aufsatz von Michael Ronellenfitsch. Dass der nicht-motorisierte Verkehr dabei im toten Winkel lag, mag auch an den Mobilitätsgewohnheiten der Autoren und Leser verkehrsrechtlicher Abhandlungen gelegen haben. Doch schon damalswurden die Sichtfeldverengung und ihre methodisch fragwürdige verfassungsrechtliche Überhöhung kritisiert, so etwa von Uwe Wesel und Horst Sendler. 

Kinder haben… ein Recht auf Erholung und Freizeit. Gerade im urbanen Umfeld kommt es auf die Ausgestaltung der öffentlichen Straßen und Plätze an, damit Kinder Entfaltungsmöglichkeiten haben.

Und tatsächlich: Grundrechte sollen nach dem rechtsstaatlichen Verständnis des Grundgesetzes nicht nur denjenigen Bevölkerungsteilen zugutekommen, die ohnehin gut repräsentiert sind: Sie sollen gerade auch benachteiligte und im Verkehrsgeschehen an den Rand gedrängte Gruppen schützen. Im Straßenverkehr sind das vor allem Kinder, alte Menschen oder Menschen mit Behinderung.

Zunächst finden sich auf völkerrechtlicher Ebene Ansatzpunkte für Gleichberechtigung und Teilhabe:

Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) schützt in Art. 3 Abs. 1 das Kindeswohl. Dies muss der Staat im Auge behalten, nicht nur im familiären Umfeld, sondern auch bei Verkehrsunfällen. Wie ein Gutachten über die Umsetzung der Staatenpflicht zum Schutz des Kindeswohls im Verkehrsrecht zeigt, ergeben sich hier enorme Defizite.

Doch es geht nicht nur um Schutz vor Gefahren. Kinder haben auch ein Recht auf Erholung und Freizeit, das aus Art. 31 Abs. 1 UN-KRK folgt. Gerade im urbanen Umfeld kommt es auf die Ausgestaltung der öffentlichen Straßen und Plätze an, damit Kinder Entfaltungsmöglichkeiten haben. 

Diese völkerrechtlichen Grundlagen sind vage und beinhalten doch einen Auftrag an den Gesetzgeber. Die Bestimmung über das Kindeswohl hat darüber hinaus auch das Potential, die Exekutive und Rechtsprechung direkt zu binden.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beinhaltet in Artikel 9 Absatz 1 ein Recht auf Barrierefreiheit. Nach Satz 2 Nr. 1 gilt diese Verpflichtung ausdrücklich für Straßen. Im deutschen Verkehrsrecht ist dies nur unvollständig angekommen. Während in vielen Straßengesetzen der Länder und im Personenbeförderungsgesetz auf die Barrierefreiheit verwiesen wird, hapert es an der Umsetzung. Bisher fehlt ein entsprechender Verweis in Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung (StVO). Daher werden barrierefreie Planungen straßenverkehrsrechtlich regelmäßig konterkariert, was sich am Beispiel des illegalen Gehwegparkens zeigt. Auch wenn Kindeswohl und Barrierefreiheit bislang nicht in StVG oderStVO auftauchen, müssen sie bei der Anwendung des Straßenverkehrsrechts beachtet werden.

Das Verfassungsrecht gibt Gerichten und Behörden den Schutz des Lebens und der Gesundheit sowie der Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) auf.  Aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Raum und der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur. Ist ein Minimum an öffentlichem Verkehrsinfrastruktur unterschritten, kommen sogar einklagbare subjektive Rechte in Frage, auch wenn dies bisher Theorie ist. Konkret wird die Frage bei der mangelnden Barrierefreiheit des öffentlichen Verkehrs. Denn seit Anfang 2022 sollten Busse und Bahnen nach § 8 Abs. 3 Personenbeförderungsgesetz (PBefG) für alle Menschen ungehindert zugänglich sein.

Die Kommunen, die im Bereich der Verkehrsplanung und -regelung eine wichtige Rolle spielen, haben in Bezug auf Grundrechte eine doppelte Funktion. Sie sind als Hoheitsträger Grundrechtsadressat, gegen den sich Schutzpflichten der Einzelnen richten. Aufgrund des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind sie auch selbst Träger von Rechten mit Verfassungsrang. Dies zeigt sich insbesondere im Planungsrecht. 

Planungsrecht: Mehr kommunal selbstbestimmte Mobilität

Verkehrsplanung wurde zu lange als rein bundes- oder landespolitische Aufgabe begriffen. Dabei bietet die kommunale Ebene viele Gestaltungsmöglichkeiten, um Mobilitätsrechte aller Gemeindemitglieder besser zu verwirklichen.

Das liegt unter anderem daran, dass – wie Hubertus Baumeister zutreffend in einem Rechtsgutachten herausgearbeitet hat – die kommunale Selbstverwaltung der Gemeinden durch die StVO zu stark beschnitten wird. Kommunen können ihren Verkehr zwar nach § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 5 StVO im Rahmen städtebaulicher Mobilitätskonzepte planen. Bei der Umsetzung werden sie aber durch hohe Begründungserfordernisse gegängelt. Diese erfordern nach aktueller Rechtsprechung gemäß § 45 Abs. 1 und Abs. 9 Satz 3 StVO konkrete und sogar qualifizierte Gefahrenlagen. Abhängig gemacht wird dies von kleinräumigen örtlichen Gegebenheiten. Dies macht eine übergreifende Planung unter Berücksichtigung städtebaulicher Gesichtspunkte oft unmöglich. Abhilfe schaffen könnte die verfassungskonforme Auslegung der entsprechenden Bestimmungen, so Baumeister in der aktuellen Ausgabe der Infrastrukturrecht. Denn Art. 28 Abs. 2 GG gibt Kommunen das Recht, ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln.

Die Planungshoheit ermöglicht Gemeinden jedoch schon jetzt, die Mobilitätsrechte benachteiligter Gruppen zu stärken. Sie können im Rahmen der Bauleitplanung, etwa durch Festsetzungen in Bebauungsplänen, und in einem Verkehrsentwicklungsplan berücksichtigt werden. Zusätzlich kann Schulwegplanung für Kinder und Jugendliche sichere und eigenständig nutzbare Wege schaffen. Örtliche Verkehrsplanung muss barrierefreie Linienführungen und Leitsysteme für gehbehinderte bzw. blinde Menschen aufnehmen.

Straßenrecht: Verkehrszwecke und überwiegende Gründe des öffentlichen Wohls

Das Straßenrecht führt für den Fußverkehr und für radfahrende Kinder wegen seines Zusammenwirkens mit den Regeln des Straßenverkehrsrechts zunächst einmal zu Mobilitätseinschränkungen: Sobald ein Teil des öffentlichen Raums als Straße dem allgemeinen Verkehr gewidmet ist, darf der Fußverkehr gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 StVO nur noch die Gehwege benutzen. Dasselbe gilt für radfahrende Kinder, die bis zum 8. Lebensjahr gemäß § 2 Abs. 6 StVO dem Fußverkehr praktisch gleichgestellt sind. Dabei ist es ein Mythos, dass Verkehr, gerne auch „Straßenverkehr“ genannt, nur den motorisierten Verkehr umfasst. Gemeint ist jede gezielte Ortsveränderung unabhängig von der Verkehrsart, damit auch der Radverkehr und Fußverkehr.

Das Straßenrecht hat zusätzlich ein bislang wenig ausgeschöpftes Potential, die Nachteile des nichtmotorisierten Verkehrs zu kompensieren. Denn mit den Instrumenten des Straßenrechts können mit reduziertem Begründungsaufwand Verkehrsflächen exklusiv für Fuß- oder Radverkehr nutzbar gemacht werden. Das zentrale Rechtsinstitut ist die Widmung, mit der die Straße als „öffentliche Sache“ Verkehrszwecken zugeführt wird. Eine einschränkende Zweckbestimmung für bestimmte Verkehrsarten ist durch eine Teileinziehung möglich. So kann etwa eine Fußgängerzone oder eine Fahrradstraße eingerichtet werden. 

Beim Bau von Straßen werden Interessen von Menschen mit Behinderungen eher berücksichtigt als bei der tatsächlichen Benutzung, deren Regelung und dessen Vollzug.

Formelle Voraussetzung dafür ist nach den Straßengesetzen der Länder ein öffentliches Widmungsverfahren. Inhaltlich setzt die Teileinziehung eine Begründung auf dem öffentlichen Wohl voraus. Obwohl es in der deutschen StVO, anders als in der österreichischen bisher keine Regelung zu Schulstraßen gibt, können Fahrbahnen mit den Instrumenten des Straßenrechts für Schulkinder freigegeben werden.

Das Straßenrecht regelt auch die Detailplanung und den Bau von Straßen. Viele Weichen für barrierefreie und inklusive Infrastruktur werden bereits hier gestellt.Im Straßenrecht der Länder sind im Vergleich zum Straßenverkehrsrecht die Belange der Barrierefreiheit im Allgemeinen schon besser integriert, d.h. dass beim Bau von Straßen Interessen von Menschen mit Behinderungen eher berücksichtigt werden als bei der tatsächlichen Benutzung, deren Regelung und dessen Vollzug.

Straßenverkehrsrecht

Priorisierung des Fahrzeugverkehrs

Während die straßenrechtliche Widmung dem Verkehrsgeschehen einen Rahmen setzt, ergeben sich aus dem Straßenverkehrsrecht die Modalitäten der Benutzung. So finden sich  in § 8 StVO Vorfahrtsregeln. Diese Regeln heißen nicht umsonst Vor-Fahrts-Regeln. Sie privilegieren den Fahrverkehr und diskriminieren den Fußverkehr. Dies ergibt sich nicht explizit aus der Straßenverkehrsordnung, lässt sich jedoch systematisch herleiten. Denn abgesehen von dem sprachlichen Hinweis im Wort „Vorfahrt“ ist in dem Paragrafen an verschiedenen Stellen von Fahrzeugen die Rede.

Aus dem Verbot der Fahrbahnbenutzung gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 StVO und den Vorfahrtsregeln ergibt sich eine rechtliche Schlechterstellung des Fußverkehrs. Faktisch werden die rechtlichen Nachteile überall dort auf den Fahrradverkehr ausgedehnt, wo Fahrradwege angeordnet sind und sich ein Benutzungszwang ergibt. Immerhin gelten die Vorfahrtsregeln weiter zugunsten des Radverkehrs, außer für Kinder bis zum achten Lebensjahr, die gemäß § 2 Abs. 5 Satz 7 StVO vor Fahrbahnquerungen absteigen müssen. 

Vor diesem Hintergrund erstaunt die angebliche Gesamtausrichtung des Straßenverkehrsrechts als „präferenz- und privilegienfrei“, wie sie von der Rechtsprechung behauptet wird. Das lässt sich nur dadurch erklären, dass die Priorisierung des Kraftfahrzeugverkehrs lange Zeit als alternativlos galt. Bereits in früher Kindheit wird dies als „Normalität“ in der Verkehrserziehung eingeübt.

„Vision Zero“

Aus Schweden kommend wird nunmehr auch in Deutschland oft die sogenannte „Vision Zero“ als Ziel für die Verkehrspolitik herangezogen. Durch präventive Maßnahmen, Anpassung der Verkehrsregeln und Verbesserung der Infrastruktur soll nach diesem Leitbild bewirkt werden, dass es im Verkehr keine schweren Unfälle mit Toten oder schwer Verletzten mehr gibt. 

Die Nachteile der anderen Verkehrsarten und die Gefährdung der Sicherheit des Fuß- und Fahrradverkehrs könnten durch Einschränkung des Kfz-Verkehrs kompensiert werden. Nach der Logik des § 45 StVO ist dies aber nur unter engen Voraussetzungen möglich: Erforderlich ist eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs. Diese Begründungsbedürftigkeit wurde durch die sogenannten „Schilderwald-Novellen“ verstärkt. Aus ihnen resultierte ein Paradox: Sie sollten für weniger Verkehrsschilder sorgen, aber durch eine hohe, spezifische Begründungslast kam es zu mehr punktuellen Anordnungen. Streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkungen werden auf wenige sensible Punkte wie Kindergärten, Schulen oder Alten- und Pflegeheime beschränkt. Dazwischen herrscht wieder Regelgeschwindigkeit.  Trotz der Initiative vieler Städte zumindest mehr Spielräume zu schaffen, liegt sie weiterhin bei 50 km/h. Dies dient ausschließlich dem schnelleren Vorankommen des motorisierten Verkehrs, wird aber den Belangen anderer Verkehrsarten nicht gerecht. 

Seit der StVO-Novelle 1997 ist grundsätzlich eine qualifizierte Gefahr gemäß § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO erforderlich. Sie muss erheblich über dem Durchschnitt der typischen Gefahren liegen. Dies wird oft durch Unfallzahlen indiziert, so dass viele Gerichte oder Straßenverkehrsbehörden „erst Blut sehen wollen“, bevor sie zur Verkehrsregelung bereit sind. 

So wird der statistisch unauffällige „Status Quo“ des Verkehrsgeschehens rechtlich vor Veränderungen geschützt. § 45 StVO wurde damit zu einem Teflonparagrafen: Er schützt einseitig den Kfz-Verkehr, lässt aber typischerweise die Belange anderer Verkehrsarten an sich abperlen. Allenfalls in Extremfällen sind Korrekturen möglich, so dass es aussichtsreich sein kann, auf besonders gefährlichen Straßenabschnitten Fahrradinfrastruktur einzuklagen. 

In Deutschland stößt die Verwirklichung der „Vision Zero“, eines multinationalen Projekts der Straßenverkehrssicherheit aus den genannten Gründen auf ein systematisches rechtliches Hindernis. Wenn das Risiko solch schwerer Unfälle zum „normalen“ Verkehrsgeschehen gehört, dann haben die Straßenverkehrsbehörden bisher nur dort eine Handhabe, wo diese schweren Unfälle bereits gehäuft aufgetreten sind. Der präventive Ansatz der Vision Zero kann daher mit den Möglichkeiten des deutschen Straßenverkehrsrechts bisher nicht verfolgt werden.

Leichtigkeit des Fuß- und Fahrradverkehrs

Eine Gefahr gemäß § 45 Abs. 1 StVO kann auch für die Ordnung des Verkehrs bestehen, die vor allem als “Leichtigkeit” des Kfz-Verkehrs verstanden wurde. Es gibt rechtlich keinerlei Grund, dies nicht auch für den Fußverkehr geltend zu machen. Denn auch dies ist “Verkehr” im Sinne der StVO. Nun haben Fußgänger, insbesondere minderjährige, den geringsten Platzbedarf von allen Verkehrsteilnehmern, was regelmäßig zu ihren Ungunsten ausgelegt wird. So wird vom OVG Bremen die Mindestbreite eines noch funktionalen Gehwegs mit 1,50 m beziffert, auch wenn dann Kinderwagen und Rollstühle nicht mehr problemlos aneinander vorbeifahren können.

Das deutsche Verkehrsrecht steckt voller Widersprüche und einseitiger Festlegungen, die einen radikalen Neuanfang wünschenswert machen lassen.

Das Verkehrsrecht hat vor allem eine sehr wesentliche Frage für die Leichtigkeit des Fußverkehrs bisher großräumig umfahren: Die der Querungen. Aufgrund der Diskriminierung bei den Vorfahrts- bzw. Vorrangregeln müssen Kinder und Menschen mit Behinderungen besonders lange an Straßenkreuzungen warten. Kompensiert werden könnte dies durch Fußgängerüberwege. Diese können jedoch nach deutschem Recht nur in Ausnahmefällen angeordnet werden.

Die überlangen Wartezeiten an Kreuzungen und Querungen müssen ebenfalls als eine konkrete Gefahr für die Ordnung des Fußverkehrs qualifiziert werden. Dann können sie auch zu kompensatorischen Maßnahmen berechtigen und – bei besonders erheblichen Beeinträchtigungen – sogar verpflichten.

Fazit: Die Zukunft des Verkehrsrechts beginnt auf der Straße

Das deutsche Verkehrsrecht steckt voller Widersprüche und einseitiger Festlegungen, die einen radikalen Neuanfang wünschenswert machen lassen. Dabei ist nicht nur die Legislative, sondern auch die Rechtsanwendung, sei es in der Anwaltschaft, in Behörden und Gerichten, in der Verantwortung. Sie kann schlafende Potentiale realisieren, die im Recht angelegt sind. 

Damit Initiativen der Verkehrswende nicht fortlaufend am Verkehrsrechts abprallen, ist es nötig die zementierte Rechtspraxis von der Ebene der Grundrechte her aufzubrechen und das Verkehrsrecht von der engen Fokussierung auf den Kfz-Verkehr zu befreien:

  • Die kommunale Planungshoheit hat Verfassungsrang:Wenn die StVO das bisher nicht ausdrücklich berücksichtigt, ist eine konforme Auslegung nötig
  • Das Straßenrecht bietet Gestaltungsmöglichkeiten, die den strengen Voraussetzungen des Straßenverkehrsrechts nicht unterliegen
  • Die Barrierefreiheit muss als straßenverkehrsrechtliches Schutzgut rechtlich anerkannt, die Leichtigkeit des Verkehrs muss auf den Fuß- und Radverkehr bezogen und tatsächlich verwirklicht werden, gerade bei Querungen. 

Benachteiligte Gruppen dürfen nicht darauf hoffen, im „Miteinander im Verkehr“ ihre gleichberechtigte Teilhabe von der wohlmeinenden Regierung eingeräumt zu bekommen. Vielmehr gilt auch im Verkehrsrecht der Satz von Rudolf von Jhering, nach dem alles Recht in der Welt erstritten worden ist: Jeder wichtige Rechtssatz muss erst denen, die sich ihm widersetzen, abgerungen werden, weil Recht die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraussetzt.

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