Bremen hat eine lange Geschichte der Entwicklung von verkehrspolitischen Instrumenten, die nachweislich mehr Menschen zum Radfahren ermutigen und befähigen. Der erste deutsche Radweg wurde hier 1897 gebaut, Fahrradstraßen wurden in Bremen in den 1970er Jahren erfunden, ebenso wie das Radfahren gegen die Fahrtrichtung auf Einbahnstraßen. In jüngerer Zeit werden Fahrradmodellquartiere entwickelt und Radspuren mit durchgezogener Trennlinie gebaut.
Aber es gibt ein “Werkzeug”, das sich als besonders wenig hilfreich erwiesen hat. In Bremen wird es zwar genutzt, ist aber vom Namen her weitgehend unbekannt. In vielen Ländern ist es als sogar als für die Förderung des Fahrradfahrens schädliche Idee anerkannt, denn dahinter steht eine Theorie, die eine Reihe von Ländern um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. Es nennt sich „Vehicular Cycling“ (VC).
Was ist Vehicular Cycling?
Eine Definition des Begriffs Vehicular Cycling findet sich bei Wikipedia. Hier wird er definiert als :
“die Praxis des Fahrradfahrens auf Straßen in einer Weise, die mit den Grundsätzen für das Fahren im Straßenverkehr in Einklang steht und die Verantwortung für die Sicherheit auf den Einzelnen überträgt”.
In der Praxis bedeutet dies, dass man sich dafür einsetzt, dass Radfahrende mit anderen Fahrzeugen auf der Straße gemischt werden anstatt sie durch den Bau von Radwegen zu trennen. RadfahrerInnen sollen lernen, mit dem Fahrrad zu fahren, als ob es irgendein anderes Straßenfahrzeug sei. Das Fahrradtraining wird daher als der Schlüssel zur Ermöglichung des VC angesehen. Und es wurde im 20. Jahrhundert in Großbritannien und den USA zum Leitbegriff für RadaktivistInnen.
Im Vereinigten Königreich führte der Cyclists’ Touring Club (CTC) in den 1930er Jahren eine Kampagne gegen getrennte Radwege durch und argumentierte, dass :
“die Einrichtung von Radwegen am Rande der Hauptstraßen nicht dazu dienen würde, Radfahrern einen guten Fahrradweg zu bieten, sondern sie im Interesse der Autofahrer von der Straße zu entfernen”.
Die Idee der Trennung von Rad und Auto wurde als eine Form der Kapitulation gegenüber den AutofahrerInnen angesehen und von den Befürwortern des Radverkehrs weitgehend verspottet.
Der eigentliche Ausdruck “Vehicular Cycling” erschien erstmals 1976 in den USA, in der ersten Ausgabe von John Foresters “Effective Cycling”. Hier schrieb er:
“Radfahrer fahren am besten, wenn sie handeln und als Fahrer von Fahrzeugen behandelt werden“.
Forester war ein begeisterter Radfahrer. Im Jahr 1971 wurde er Radaktivist, als er in seiner Heimatstadt Palo Alto eine Strafe dafür erhielt, dass er auf der Fahrbahn statt auf einem Straßenabschnitt, der einen obligatorischen Radweg hatte, mit dem Rad gefahren war. Er kämpfte, seine Geldstrafe wurde aufgehoben und er begann, sich für das Recht auf Radfahren auf allen Fahrbahnen in den Vereinigten Staaten einzusetzen. Dies führte ihn unweigerlich zur wichtigsten Fahrradorganisation, der League of American Bicyclists. Sie nahm viele der Ideen von John Forester begeistert auf, inbesondere Foresters Fahrraderziehungsprogramm, Effective Cycling.
Doch in den 1990er Jahren erkannten Aktivisten in beiden Ländern, dass das Fahrrad als Verkehrsmittel am Aussterben war. Der Model Split war in beiden Ländern auf weniger als 1% zurückgegangen. Die Idee, sich mit einer ständig wachsenden Zahl von Kraftfahrzeugen zu mischen, fand offensichtlich keinen Anklang. Zunehmend wurden Stimmen laut, die den Bau von Radwegen forderten.
Heute sind beide Länder dabei, zu den wenigen Ländern “aufzuschließen”, die eine eigene Radverkehrsinfrastruktur aufgebaut haben. London baut seine Cycle Superhighways, New York seine Protected Bicycle Lanes. Beide haben eine beeindruckende Wirkung auf die Popularität des Radfahrens.
Warum ist vehicular cycling ein wichtiges Konzept für Bremen?
Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in den USA wurde das vehicular cycling als Möglichkeit gesehen , RadfahrerInnen die Nutzung der Straßeninfrastruktur zu ermöglichen, zu einer Zeit, als Radwege benutzungspflichtig waren. Die jüngere Geschichte Bremens ist dieser Geschichte nicht unähnlich, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus. In den 1990er Jahren verfügte Bremen bereits über ein beachtliches Netz getrennter Radwege und einen Radverkehrsanteil von fast 25%. Zu diesem Zeitpunkt begann der ADFC in Bremen und bundesweit seine Kampagne gegen die Radwegebenutzungspflicht. Ähnlich wie im Fall von John Forester wurde diese von erfahrenen und relativ schnellen Radfahrenden angeführt, die sich im Mischverkehr auf der Fahrbahn wohl fühlten. Als Mitgliedsorganisation war dies nicht überraschend. Das Ergebnis war die Abschaffung der Radwegebenutzungspflicht auf den meisten Straßen Bremens.
An sich ist dies kein Problem. Erfahrene RadfahrerInnen, vor allem berufstätige RadfahrerInnen wie z.B. Kuriere, wollen schnell an ihr Ziel kommen und die Straße dort nutzen, wo dies Zeit spart. Aber der Bremer Verkehrsentwicklungsplan 2025 (VEP, Seite 68) selbst stellt fest, dass die überwiegende Mehrheit der Radfahrer die Sicherheit und relative Ruhe der Radwege der Vermischung mit dem motorisierten Verkehr vorzieht, allerdings zieht der VEP bei vielen seiner empfohlenen Maßnahmen die gegenteilige Schlussfolgerung daraus.
Das Problem in Bremen ist, dass diese Begeisterung einiger Radaktivisten für den Radverkehr auf der Fahrbahn in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer scheinbaren “Lösung” für das Problem der maroden und überparkten Radwege wurde. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass der Begriff “Radverkehr auf der Fahrbahn” in Bremen für eine Vielzahl von Maßnahmen verwendet wird.
Zum Beispiel schrieben die Grünen in ihrem Radverkehrsmasterplan 2013, Besser Bewegtes Bremen :
„Das Radfahren soll den Straßenraum mit dem Autoverkehr teilen und nicht mit Fußgängern.“
Doch schon im nächsten Satz sagten sie:
„Wir schlagen vor, den Radweg auf dem Herdentorsteinweg in Richtung Innenstadt auf die Straße zu verlegen und eine Autospur umzuwidmen.“
Mit anderen Worten: NICHT mit dem Autoverkehr teilen.
In fast 20 Jahren Arbeit in Fahrradkampagnen habe ich noch nie ein solches Ausmaß an Widersprüchen unter AktivistInnen erlebt wie in Bremen. Ich höre zum Beispiel oft das Argument, dass ein Fahrrad ein “Fahrzeug” ist und deshalb auf die Fahrbahn “gehört”. Aber wenn ich frage, was das in der Praxis heißt, stelle ich fest, dass es für verschiedene Leute unterschiedliche Bedeutungen hat – reiner Mischverkehr, die Einrichtung von Angebotsspuren oder mit durchgezogener Linie abgegrenzte Fahrradspuren. Für manche bedeutet es sogar geschützte Radverkehrsstreifen (denn die sind ja auch auf der Fahrbahn).
Einige BefürworterInnen des Radfahrens auf der Fahrbahn argumentieren, dass sie einfach die deutsche Straßenverkehrsordnung (StVO) befolgen, die in § 2 unverblümt festlegt, dass Fahrzeuge die Fahrbahnen benutzen müssen. Doch motorisierte Rollstühle sind in Deutschland gesetzlich als Fahrzeuge definiert, nicht aber Kinder auf Fahrrädern, die wie FußgängerInnen behandelt werden sollten. Und natürlich verbietet die Radwegebenutzungspflicht dem Radfahrenden ausdrücklich die Benutzung bestimmter Fahrbahnen. Die Rolle des Radverkehrs auf diese Weise zu vereinfachen, ist eindeutig nicht hilfreich.
Aber das Thema des „Radverkehrs auf der Fahrbahn“ ist dennoch außerordentlich wichtig. Wer den Radverkehrsanteil in Bremen erhöhen will, muss genauer analysieren, was Radfahren auf der Fahrbahn bedeutet. Deshalb ist das Verständnis des Konzepts des vehicular cycling so wichtig.
Subjektiv vs. objektiv begründete Fahrradpolitik
Das Problem entsteht, wenn nur auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen einer kleinen und speziellen Gruppe von Radfahrenden argumentiert wird, ohne sich auf breitere Studien über RadfahrerInnen und vor allem potenzielle RadfahrerInnen zu stützen. Ich nenne dies subjektiv begründete Fahrradpolitik (subjective advocacy) im Gegensatz zu einer objektiv begründeten Fahrradpolitik (objective advocacy). BefürworterInnen des Radelns auf der Fahrbahn argumentieren, dass sie sich beim Radeln im gemischten Verkehr “gut fühlen”. Wenn sie mit anderen konfrontiert werden, die das nicht tun, werden diese mit dem Mantra abgetan, dass, egal was mensch fühlt, die Straße sicherer sei, es handele sich um “objektive Sicherheit“. Wir haben an anderer Stelle gezeigt, dass das deutsche Konzept der objektiven Sicherheit auf der Fahrbahn mit großen Fehlern behaftet ist. Aber es wird trotzdem benutzt, um die Beseitigung bestehender, getrennter Infrastruktur zu rechtfertigen.
Der einzige Weg, wie Bremen wirklich vorankommen kann, ist die Entwicklung einer Politik auf der Grundlage der Erfahrungen, Gefühle und Einstellungen der breiten Bevölkerung zum Radfahren unter verschiedenen Bedingungen – was ich objektiv begründete Fahrradpolitik (objective advocacy) nenne.
Die Lehre von den vier Typen
Glücklicherweise gibt es eine solche Arbeit bereits – die Lehre von den vier Typen von RadfahrerInnen.. Ursprünglich aus Portland, USA, stammend, ist diese Analyse jetzt ein Schlüsselaspekt des ADFC-Denkens auf nationaler Ebene, muss sich aber in Bremen noch etablieren.
So Geht Verkehrswende
Die ADFC-Publikation “So Geht Verkehrswende” aus dem Jahr 2018 beschreibt, wie Portland als Reaktion auf das Versagen der Radverkehrsförderung bei der Steigerung der Radverkehrszahlen das Verhalten von Radfahrenden und Nicht-Radfahrenden im Detail untersuchte. Der Radverkehrskoordinator der Stadt, Roger Geller, entwickelte vier Typen: – stark und furchtlos (0,5 % der StadtbewohnerInnen), begeistert und überzeugt (6,5 %), interessiert, aber besorgt (60 %) und auf keinen Fall (33 %). Und er schloss aus seiner Untersuchung, dass, um den Radverkehrsanteil zu erhöhen, die dritte Gruppe der Interessierten aber Besorgten angesprochen werden müsse.
Es wäre interessant und dringend erforderlich, eine ähnliche Studie in Bremen durchzuführen. Zweifellos würden die Zahlen in einer Stadt, in der 25 % aller Wege auf dem Fahrrad als Hauptverkehrsmittel zurückgelegt werden, anders ausfallen. Aber das Prinzip bleibt das gleiche. Begeisterte und überzeugte Radfahrer, sehr oft genau die Leute, die Radverkehrspolitik gestalten oder beeinflussen, müssen die Bedürfnisse anderer im Blick haben, nicht nur die eigenen, wenn sie den Anteil des Radverkehrs erhöhen wollen. Außerdem müssen die verschiedenen Arten von Radverkehrsinfrastruktur, von getrennten Radwegen bis hin zur Vermischung mit dem Autoverkehr nach den konkreten Bedingungen auf unseren Straßen kategorisiert werden. Dies alles ist in „So Geht Verkehrswende“ dargelegt.
Besser oder Schlechter
Aus der Sicht der Mehrheit der tatsächlich und potenziell Radfahrenden gibt es eine Hierarchie von Infrastruktur in bezug auf ihre Qualität, Attraktivität und Komfort. Dabei rangieren die getrennten Radwege an der Spitze und der Mischverkehr am unteren Ende. Je belebter die Straße oder je schneller der Autoverkehr, desto wichtiger ist es, den Radfahrenden eine qualitativ bessere Infrastruktur zu bieten. Entscheidend für Bremen ist, dass das Entfernen von Radwegen im Austausch für eine andere Art von Infrastruktur-Angebot sehr oft eine Verringerung der Attraktivität für die Mehrheit der Radfahrenden bedeutet.
Natürlich kann die Verlagerung des Radverkehrs auf die Fahrbahn sinnvoll sein – wenn parallel dazu wirksame Maßnahmen zur Reduzierung der Menge und Geschwindigkeit des Autoverkehrs ergriffen werden. Beispielsweise ist die Umwandlung einer stark befahrenen Straße mit schnell fahrenden Autos in einer ruhige Wohnstraße, z. B. durch die Verwendung eines modalen Filters, der den gesamten Autodurchgangsverkehr ausschließt, eine gute Möglichkeit, den Radverkehr auf der Fahrbahn attraktiver zu machen.
Verwenden Sie den Vehicular Cycling Test
Aber mit all diesen Werkzeugen im Kasten ist ein Schlüsselwerkzeug der Test zum vehicular cycling. Dieser überprüft:
- Inwieweit werden die Radfahrenden aufgefordert, das vehicular cycling zu übernehmen?
- Werden AlltagsradlerInnen wirklich frei nebeneinander fahren und sich dabei unterhalten können?
- Gibt es zu viele AutofahrerInnen, die sie bei jeder Gelegenheit überholen wollen?
- Halten sich die Autofahrenden wirklich an die gesetzlichen 30 km/h?
In der Tat gibt es in Bremen bereits deutliche Beispiele dafür, was vehicular cycling bedeutet. Schauen wir uns zum Beispiel die Probleme in der Pappelstraße an, einer Straße mit Tempo 30 in der Neustadt, ohne Radweg aber mit einem hohen Aufkommen an PKW und Bussen.
In den USA haben die RadverkehrsaktivistInnen 30 Jahre gebraucht, um die Richtung zu ändern. John Forester, jahrzehntelang ein angesehener Fahrradaktivist der League of American Bicyclists, verlor 2006 schließlich eine interne Wahl mit 2 zu 1. Das britische Pendant John Franklin beeinflusst mit seinem Buch und dem Bildungsprogramm Cyclecraft immer noch die offizielle Politik. Aber unter den Aktivisten hat er großen Widerspruch ausgelöst, und es gibt eine Welle der Unterstützung für getrennte Fahrradinfrastruktur.
Diese Debatte brodelt auch in Bremen unter der Oberfläche. Die Entscheidung etwa, in der Humboldtstraße in der Östlichen Vorstadt die Radwege zu entfernen und sie in eine Fahrradstraße-lite zu verwandeln, wird angesichts von Beschwerden über das Verhalten des Kfz-Verkehrs neu bewertet. Der Vorschlag, die Radwege in der Busestraße in Schwachhausen zu entfernen, hat die RadaktivistInnen gespalten. Und natürlich gibt es die Kontroverse um die Pläne für die vielbefahrene Martinistraße im Stadtzentrum. Durchgesickerte Details zeigen die derzeitige vierspurige Straße mit Rad- und Fußwegen daneben, die in eine zweispurige Straße ohne Radweg und einen breiten Bürgersteig umgewandelt wird. Der einzige und nicht hinreichende Hinweis auf sicherere Radfahrbedingungen ist eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h. Es sind genau solche Situationen, die den Vehicular Cycling Test erfordern.
Bremens verkehrspolitische Debatte findet jetzt, wie in den meisten Städten, im Kontext des Klimanotstands statt. Kurzfristig müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, die die Menschen von umweltschädlichen auf umweltfreundliche Verkehrsmittel wie Radfahren und Zufußgehen umsteigen lassen. Wenn Bremen so etwas wie eine Verkehrswende erreichen will, muss vehicular cycling und seine Auswirkungen besser verstanden und erkannt werden. Seine unreflektierte Förderung in Bremen hat sich negativ auf den Radverkehrsanteil ausgewirkt. Wie wir gesehen haben, gibt es viel bessere Werkzeuge im Werkzeugkasten.
Wenn ich mich richtig erinnere, wird in dem Buch vehicular cycling nicht als Ansatz zur Radverkehrsförderung verstanden, sondern als Überlebensstrategie in einer “Auto-Stadt” der USA. Das sollte man nicht damit verwechseln, dass aus Sicherheitsüberlegungen heraus, in dem 90ern in Frage gestellt wurde in Deutschland, ob Radwege uneingeschränkt Sicherheit bringen. Das Wissen um diese Debatten ist verloren gegangen, wie dieses Jahr auch B. Storck beim FGSV-Kongress ohne jegliche Scham kund tat. Das spricht nicht für ihn und seine Anhänger, dass sie geschichtsvergessen ein paar Jahrzehnte zurück wollen in der Debatte.
Einteilungen der Bevölkerung in ganz andere Kontext zu übertragen, ist grundsätzlich fragwürdig. Das darauf aufbauende Planungsmodell ist mir zu statisch. Wenn die darauf aufbauende Planung an sich selber glauben würde, müsste im Modell berücksichtigt werden, dass zukünftig ja nun eben die Mehrheit angstfrei unterwegs ist und sich damit die Bedürfnisse verschieben.
Und: Egal wie subjektiv sicher sich was anfühlt, die verantwortlichen Planer haben die Verantwortung, keine objektiv unsicheren Situationen zu schaffen. Und sollten das zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen nicht tun. Das verstehen viel Radaktivisten nicht.