Wenn Bürger die Politik zu Fahrradfreundlichkeit zwingen

von | Nov 3, 2016

 

Volksentscheid Fahrrad, Beginn der Unterschriftensammlung Mai 2016

Volksentscheid Fahrrad, Beginn der Unterschriftensammlung Mai 2016

Die im November 2015 gegründete Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad hat innerhalb kürzester Zeit eine bislang noch nie da gewesene öffentliche Debatte über Radverkehr entfacht. Der „Radentscheid“ ist zu einem Dauerbrenner der Berliner Medien geworden (s. Medienspiegel) und wird mittlerweile deutschlandweit und selbst international wahrgenommen. Grund genug auch für Bremenize, um hinzuschauen, was da in Berlin passiert.
Was fordert der Radentscheid, was können wir uns in Bremen davon abgucken? Sollten wir vielleicht sogar eine „Schwester“ des Radentscheids in Bremen gründen?

Tim Birkholz, einer der mehr als 100 MitstreiterInnen vom Volksentscheid Fahrrad schreibt für uns hier:

Volksentscheid Fahrrad in Berlin: Wenn Bürger die Politik zu Fahrradfreundlichkeit zwingen

105.425 Unterschriften für eine fahrradfreundliche Politik in Berlin

105.425 Unterschriften in nur 3 ½ Wochen für das erste deutsche Radgesetz (RadG) wurden gesammelt! Nur 20.000 Unterschriften in sechs Monaten wären notwendig gewesen für den Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens, der ersten von drei Stufen eines Volksentscheides. Der Volksentscheid Fahrrad war eines der bestimmenden Themen im Berliner Wahlkampf 2016, jede Partei war gezwungen sich zu diesem Thema zu positionieren. Die unglaubliche Resonanz in der Bevölkerung und den Medien zeigt der Politik, wie wichtig das Thema „Radverkehr“ ist und wie dies  jahrelang sträflich vernachlässigt und unterschätzt wurde.

Ein Weckruf für Politik, Planung und Interessenverbände

Doch der Radentscheid ist nicht nur für die Politik ein Weckruf. Auch für Planer und schon länger existierende Interessenverbände ist die Initiative von Bedeutung. Denn eine zentrale Kritik des Volksentscheid Fahrrad lautet, dass die Bedeutung von sicherer Infrastruktur für das Rad in Deutschland auch heute noch massiv unterschätzt wird. Häufig wird neu gebaute Infrastruktur möglichst kostengünstig gebaut und entspricht nicht etablierten Best Practice-Standards. Die Folge: Es werden nicht alle potenziellen Bevölkerungsgruppen zum Radfahren animiert, und es passieren zu viele vermeidbare Unfälle mit schwerwiegenden Folgen. Wie sich der Radentscheid eine fahrradfreundliche Politik und Planung vorstellt, wurde in 10 Zielen definiert und im Radgesetz verbindlich festgeschrieben.

Vision Fahrradstraße, Composing: Rabea Seibert

Vision Fahrradstraße, Composing: Rabea Seibert

Radfahren soll für alle sein – auch Kinder, Senioren und normale Alltagsradler sollen sich sicher fühlen

 

 

Radfahren ist gut für Berlin und soll sicher und attraktiv für alle sein. Der Radentscheid kritisiert deshalb in Berlin nicht nur, dass viel zu wenig und das auch noch zu langsam umgesetzt wird. Er kritisiert explizit auch die Qualität der neu gebauten Infrastruktur in Berlin, denn die ist in Berlin nicht für alle potentiellen Zielgruppen des Radfahrens geeignet. Kinder, ältere Menschen und andere normale Alltagsradler werden in Berlin diskriminiert. Das Motto lautet „Mutige vor“: Neue Rad-„Infrastruktur“ verläuft meistens direkt auf der Straße, auch an stark befahrenen Hauptstraßen. Meist lauern auf der rechten Seite sich öffnende Autotüren, und links überholen zu schnell fahrende LKW und PKW. Zugeparkt sind die oft sowieso viel zu schmalen Streifen oft auch noch, weil die Polizei dies nicht sanktioniert. In Fahrradstraßen gibt es keine zusätzlichen Maßnahmen, die den PKW-Durchgangsverkehr verhindern. Ampelschaltungen sind häufig als „Rote Welle“ für Radfahrer geschaltet. Die Folgen dieser Radpolitik und -planung sind zunehmende Konflikte im Verkehr und große Unzufriedenheit unter allen Verkehrsteilnehmern.

RadG definiert neue Qualitätsmaßstäbe

Das von der Initiative entwickelte Radgesetz (RadG) definiert deshalb in vielen Bereichen neue Qualitätsmaßstäbe, aber als „Soll“-Vorschrift, damit es StVO- und ERA-konform bleibt. Die inhaltliche Stoßrichtung ist eindeutig: Einfach nur Farbe reicht nicht aus, denn sie hat keine magischen Superkräfte. Explizit wird separierte Infrastruktur gefordert, wobei die physische Barriere auch aus einfachen Pollern oder anderen relativ einfachen Maßnahmen bestehen kann. Das Vorbild sind die Niederlande, Dänemark, aber mittlerweile auch die USA, „protected bike lanes“ sind das Stichwort. Auch der Tausch von Kfz-Parken und Radstreifen à la Kopenhagen wird gefordert, denn warum sollen Radfahrer parkende Autos schützen und nicht umgekehrt? Und in Fahrradstraßen soll zukünftig mit effektiven Maßnahmen verhindert werden, dass es zu unerwünschtem oder sogar illegalem Durchgangsverkehr von Kfz kommt. Wechselnde Einbahnstraßenregelungen oder Barrieren für Autos könnten hier eine Lösung sein. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit sind der Umbau von Kreuzungen sowie die Verpflichtung zu sofortigen Untersuchungen nach schweren Unfällen. All diese (und noch weitere) Maßnahmen sollen dazu führen, dass sich zukünftig alle Menschen eingeladen fühlen Rad zu fahren.

Vision Tempelhofer Ufer, Composing: Rabea Seibert

Vision Tempelhofer Ufer, Composing: Rabea Seibert

Andere Metropolen machen es vor: Es geht – wenn der politische Wille da ist

Im europäischen Ausland und selbst in den USA merken mittlerweile immer mehr Städte, dass Verkehrsprobleme, hohe Unfallzahlen, Klimawandel und Luftverschmutzung nicht ohne die Hilfe des Fahrrads bewältigt werden können. New York, Barcelona, London oder Paris und viele mehr sind angetreten, Amsterdam und Kopenhagen den Titel Fahrradstadt streitig zu machen. Die Bürgermeister dieser aufstrebenden Fahrradstädte haben das Thema „Radverkehr“, genau wie Amsterdam und Kopenhagen zur Chefsache gemacht. Berlin ist hiervon noch weit entfernt.

Lob aus Kopenhagen von Mikael Colville-Andersen

Heinrich Strößenreuther, Mikael Colville-Andersen, Maximilian Hoor und Tim Birkholz, Foto: Antonia Richter

Heinrich Strößenreuther, Mikael Colville-Andersen, Maximilian Hoor und Tim Birkholz, Foto: Antonia Richter

In Kopenhagen wurde die Aktivität des Radentscheids übrigens auch schon bemerkt. Mikael Colville-Andersen, der Gründer der beiden berühmten Blogs „Copenhagenize“ und „Copenhagen Cycle Chic“ war wenige Monate nach dem Aufkommen des Radentscheids in Berlin und hat eine ausführliche Analyse über die Berliner Situation und den Radentscheid veröffentlicht: Hier auf Deutsch und hier auf Englisch nachzulesen.

Die Bürger radeln voraus – die Politik hat die Entwicklung verschlafen

In Berlin gibt es nicht wenige Stimmen, die sagen, dass sich die Berliner Politik den Volksentscheid Fahrrad „hart erarbeitet“ hat. Denn das Fahrrad hat sich in den letzten Jahren in der Berliner Innenstadt (wieder) zu einem echten Massenverkehrsmittel entwickelt. Selbst im Winter steigen viele Menschen aufs Rad. Innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings werden inzwischen mehr Wege mit dem Rad als mit dem Auto zurückgelegt.

Das ist erstaunlich, sind doch entlang wichtiger Routen und Straßen die Zustände für Radfahrer eine Zumutung und mitunter gefährlich. Rund 50 % aller Berliner Hauptstraßen haben gar keine Radinfrastruktur. Das Berliner Radverkehrsbudget beträgt weniger als 15 Mio. € pro Jahr, ca. 4 € pro Einwohner und Jahr. Und selbst dieses minimale Budget wird oft nicht ausgeschöpft: Allein in den letzten fünf Jahren wurden hiervon 4,5 Mio. € schlicht nicht ausgegeben. Die oben genannten Großstädte geben hingegen ein Vielfaches für den Radverkehr aus – die meisten liegen zwischen 15 und 25 € pro Einwohner und Jahr. Und so lautet auch die Forderung des Nationalen Radverkehrsplans 2020, der für Vorreiterstädte eine Summe von 18 bis 19 € pro Einwohner und Jahr empfiehlt. (https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/bund/nationaler-radverkehrsplan-nrvp-2020)

Dabei wäre die Lösung ganz einfach: Abgucken bei den Niederlanden und Kopenhagen, und das Beste kopieren. Dort entsteht hochwertige – an Hauptstraßen in der Regel vom Kfz-Verkehr separierte – Infrastruktur mit dem Ziel, so attraktive Wege zu bauen, dass möglichst viele Menschen ermutigt werden, Rad zu fahren. Und in den USA wird bei neuen Wegen mittlerweile untersucht, welches Stresslevel Radfahrer haben. Von so einer Herangehensweise bei der Planung von Fahrradinfrastruktur sind wir in Berlin (und auch dem Rest von Deutschland) leider noch weit entfernt.

Sit-in von Aktivisten des Volksentscheid Fahrrad auf der Oranienstrasse als Protes gegen die Untätigkeit des Berliner Senats, 29.7.2016

Wenn der Wille in der Politik fehlt, müssen die Bürger ran

 

Die 105.425 Unterschriften zeigen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung einen massiven Wandel in der Verkehrspolitik befürwortet. Eine repräsentative Umfrage von Berliner Morgenpost und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hat zudem ergeben, dass 62 % der BerlinerInnen die Ziele des Volksentscheid Fahrrad befürworten. Selbst unter den klassischen Autofahrern gab es eine Zustimmung von 50 %. Die Zahlen zeigen, dass die Initiative das Potential hat, eine echte Verkehrswende zu erreichen. Davon werden auch andere Städte profitieren, weil der Wandel von der autozentrierten Denk- und Planungsweise zur lebenswerten Stadt mit dem Beispiel Berlin beschleunigt wird.

Die Politik bewegt sich und sabotiert gleichzeitig: Professionalisierung und Fundraising als Antwort

Die Berliner Politik bewegt sich zwar mittlerweile und gelobt Besserung, mehr Geld und zügigeren Fortschritt, jedoch wird die ehrenamtliche Initiative gleichzeitig ausgebremst und sabotiert. Der Berliner Senat verschleppt die Prüfung des ersten deutschen Radgesetzes (RadG). Der geplante Termin für den Volksentscheid, die Bundestagswahl 2017, ist nicht mehr zu halten. In den aktuellen Koalitionsverhandlungen ist das Thema Fahrrad zwar – so hört man – ein großes Thema, ob jedoch die neue, voraussichtlich rot-rot-grüne Koalition die Forderung des Radentscheids erfüllt, das Radgesetz bis März 2017 zu beschließen, ist aktuell noch ungewiss. Der Volksentscheid Fahrrad hat deshalb kürzlich den nächsten Schritt in Richtung Professionalisierung unternommen und ein groß angelegtes Fundraising gestartet: 100.000 Euro sind das Ziel. Davon sollen unter anderem 2 ½ Stellen finanziert werden, um einen wirksame Kampagne für den Volksentscheid während des Wahlkampfes nicht mehr nur vom Sparkonto bezahlen zu müssen.

Vision Warschauer Straße (Foto: Wibke Reckzeh, Bearbeitung: Rabea Seibert)

Vision Warschauer Straße (Foto: Wibke Reckzeh, Bearbeitung: Rabea Seibert)

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3 Kommentare

  1. Karsten

    Also ich drücke dem Radentscheid in Berlin alle Daumen und wäre auch in Bremen einer der ersten Unterstützer. Denn hier könnte / müsste wesentlich mehr passieren als das im Moment der Fall ist (deswegen gibt’s ja wahrscheinlich auch bremenize).

    Ich habe den Eindruck, dass die leidige Mischverkehr-vs.-Separation-Diskussion immer wieder durchkommt (nicht nur hier, auch beim ADFC, bei der StVO-Novelle etc.).
    Einerseits ist das klar, weil die Radfahrer eine sehr heterogene Gruppe sind und da Lobby-Arbeit für alle Radfahrer und womöglich noch für die noch-nicht-aber-zukünftigen-Radfahrer echt schwierig ist, anderseits schwächt das irgendwie unsere Position.

    Dabei sind die Positionen wahrscheinlich gar nicht so weit voneinander entfernt: Mit echtem Mischverkehr in reinen Wohnstraßen können sich wahrscheinlich alle anfreunden und es sind sich wahrscheinlich alle einig, dass schlechte Infrastruktur (zu schmal, zu unsicher, schlechter Belag etc.) nicht sinnvoll ist. Daher ist es wirklich gut, dass das RadG Qualitätsansprüche für neue Infrastruktur festschreibt.

    Ich weiss z. B. nicht, ob ‚protected bike lanes‘ an Hauptverkehrstraßen wirklich der Weisheit letzter Schluss sind und ob in Bremen der Platz dazu da wäre. Aber so lange sie nicht benutzungspflichtig sind, freue ich mich, wenn sie noch mehr Leute zum Radfahren motivieren.

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  2. Wolfgang

    Leider hat sich in der offiziellen Sichtweise noch gar nichts in der Frage „autofreie Fahrradstraßen“ bewegt. In dem jüngsten Bericht
    „Nachhaltige Mobilität für Menschen und Güter“ (www.bauumwelt.bremen.de/info/nachhaltige_mobilitaet)
    aus dem Hause der senatorischen Behörden für Verkehr und Wirtschaft und ab 14.11. als Druckexemplar erhältlich wird, so das Ergebnis einer ersten Sichtung der 170 (!) Seiten, immer und unverändert von Mischverkehr – mit Autos UND Fahrrädern auch auf den künftig auszuweisenden „Fahrradstraßen“- geplant.

    Da bleibt in der Tat noch Einiges zu bewegen…

    Und insgesamt? Ein Bericht, der viel Information über den Verkehr in Bremen enthält, der aber – wir sind es kaum noch anders gewohnt – einen politischen Gestaltungswillen in Richtung Klimaeffizienz, Rückgewinnung Stadtraum und zukunftsorientierter Lebensqualität höchstens noch zwischen den Zeilen erahnen lässt.

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